Oremus pro Pontifice nostro Franzisco.

Dominus conservet eum et vivificet eum

et beatum faciat eum in terra et

non tradat eum in animam inimicorum eius.

Samstag, 7. Januar 2017

Tabuthema Demenz

Ich mag das Wort Demenz selbst nicht. Es bezeichnet einen Endzustand und die Menschen, die davon betroffen sind, sind oft in vielen Punkten von diesem Endzustand entfernt und das über viele viele Jahre. Alzheimer mit seinem relativ rapiden Verlauf ist den meisten geläufiger als die Variante, die viele über Jahre hinweg sogar erst einmal liebenswerter macht, als sie es zuvor waren, weil ihr grundguter Charakter durchschent, den sie sonst hinter Konventionen besser verbergen würden. Ich möchte hier ein paar Dinge anhand meiner Mutter erklären.

Die ersten Anzeichen sind leicht zu übersehen. Vergesslichkeiten kommen vor, ohne dass so ein Krankheitsbild besteht, und die Betroffenen sind, wenn sie auf etwas hingewiesen werden, auch nicht um Begründungen verlegen. Das erste, was auffiel, war, dass Absprachen nicht eingehalten wurden. Meine Mutter war einmal zuverlässig wie die Post, bevor diese privatisiert wurde. Wenn sie etwas sagte, konnte man Städte darauf bauen. Und wenn es die Absprache zum Mittagessen war.

Das fiel mir zuerst auf. Sie erzählte zum Frühstück, was sie machen werde. Wir unterhielten uns über das beliebte Gericht, sagen wir, Frikadellen mit Erbsen. Aber als ich nach Hause kam, war dann evtl. Leber mit Rotkraut gemacht. Frisch eingekauft, obwohl das Hackfleisch vorrätig gewesen war. "Ich hab es mir anders überlegt."

Weniger auf fiel bis zur Fast-Katastrophe die Sache mit den Rechnungen, die für die Steuer und die Nebenkostenberechnungen mehrerer Häuser abzurechnen waren. Meine Mutter balancierte immer locker aus dem Gedächtnis mit allen Ordner und drei Banken, die Buchungen immer sehr ordentlich protokolliert. - Plötzlich wurde manches falsch abgeheftet. Insbesondere wusste sie nicht mehr, welche Buchungen, bei welcher Bank gemacht wurden. Letztendlich half nur, dass ich selbst noch einmal alles elektronisch erfasste und alle Ordner durchging.

Denn plötzlich zeigte sich noch etwas. Sie konnte unvertraute Dinge nicht mehr zuordnen. Sie erkannte Rechnungen nicht mehr als das, was sie waren. Sie quälte sich stundenlang immer wieder neu über simplen Suchen und Zusammenstellungen.
Exemplarisch auch die Suche nach der Faxnummer einer Gemeinschaftspraxis: Statt im Ärzteverzeichnis suchte sie immer wieder im alphabetischen Verzeichnis, wo die Ärztin nicht aufgeführt war. Als sie dann die Anzeige der Praxis hatte, konnte sie die Nummern und Buchstaben nicht zuordnen.. Ich saß dabei und durfte die Quälerei lange nicht beenden. Sie hatte den Ehrgeiz, es selbst zu tun. Dann endlich, ein Blick, die Faxnummer stand gleich zweimal da.
Die Einführung der IBAN und BIC war verheerend. Sie kannte ihre Nummern alle auswendig und kann sie auch nicht, aber die neuen alphanumerischen Ungeheuer überfordern sie fällig. Insbesondere da in der BIC mal Zahlen mal Buchstaben auftauchen. Da wurde dann schon ein S als 5 eingetragen, weil da doch auch sonst nur Zahlen waren u.ä. - Man sieht, sie durchdachte das und die Unlogik im Aufbau der Zeichenfolge führte zu Fehlfolgerungen.

Richtige Folgerungen aus komplexeren Zusammenhängen ziehen, wird immer schwieriger. Das ist eine ganz traurige Sache. Meine Mutter war eine kluge, belesene Frau, mit scharfem Verstand und voller Herzensgüte. Mit ihr konnte man jedes Thema differenziert diskutieren. Dann kam Merkels berühmtes "ihr könnt alle kommen" und das Chaos des Immigrantenansturms, das vielleicht keinen Ort verschonte. Meiner Mutter machte das Angst, sie konnte nicht mehr einordnen wie groß die Gefahr von was war und fühlte sich bedroht und ausgeliefert. Mit Zorn zitierte sie Frau Merkel. Aber es drang nicht mehr durch, dass man auch in seiner solchen Lage differenzieren muss, sie kann es nicht mehr. Das überfordert sie. Und wenn ein Mensch völlig überfordert wird, wird er aggressiv.

Aggressivität war nie ein Merkmal meiner Mutter. Insbesondere nicht verbale Ausfälligkeiten, Beschimpfungen. Plötzlich trat das gelegentlich auf. Nur in Bezug auf nicht anwesende Fremde aber dennoch.
Aggressiv wurde sie auch, wenn man sie nach etwas fragte, dass sie nicht mehr wusste oder dass andeutete, sie habe Gedächtnisprobleme. Es war eine Mischung aus Zorn, Angst und wachsender Realisation, dass sie die Dinge nicht mehr so beherrscht, wie sie es einmal tat. Manchmal weinte sie darüber.

Wir müssen auch darauf achten, dass sie an Tor und Telefon nicht an Vertreter und Drücker gerät. Die sind ja gerade darauf geschult, die Unsicherheiten älterer Menschen auszunutzen. Und zum Glück schafft sie es mittlerweile, Notizen zu Teleonaten zu machen, gelegentlich. Sie brauchte das nie. Aber ihr Gedächtnis ist sehr selektiv.  
- Es gibt Dinge, die sie sich sofort und dauerhaft merkt.
- Es gibt Dinge, die man mit ihr ausführlich bespricht und die 5 Minuten später vergessen sind.
- Es gibt Dinge, die sie sich sofort falsch merkt und die sitzen sehr fest und sind kaum mehr zu löschen.
Das zweite ist oft das Irritierendste. Dass ein Sachverhalt völlig gelöscht ist, den sie mehrfach bestätigt hat und bei dem man sogar die Gründe ausführlich besprochen hat, ist erst einmal schwer nachvollziehbar. Aber ich habe es inzwischen schon mehrfach auch bei anderen älteren Menschen beobachtet.

Mein Vater lamentiert meist am meisten über die Gedächtnisprobleme, mit denen er oft konfrontiert ist. Aber manchmal braucht er für eine strittige Frage einen Zeugen. Würde er fragen, weisst du noch, ob ....? würde Mutter wahrscheinlich nein sagen. Aber in diesen Fällen formuliert er: "Du weißt doch auch noch genau, dass ...." Und dann "weiß" meine Mutter das, weil er es sagt. Sie würde es beschwören, so überzeugt ist sie, es genau zu wissen. Auch wenn es eine halbe Stunde später schon wieder komplett weg sein kann. Sie ist voller Empörung und Zorn, wenn man das, was sie so genau "weiß" in Frage stellt. - Suggestive Fragen können Erinnerungen, die in sich wahrscheinlich sind konstruieren, besonders wenn sie von Vertrauenspersonen kommen. 

Das Autofahren hat Mutter aufgegeben, weil sie schon in den Nachbarorten dabei die Orientierung verlieren kann, aber sie geht noch selbständig einkaufen und findet sich im Wohnort zurecht. Solange sie Altgewohntes machen kann, merkt man wenig von ihren Problemen. Schwierig wird es, wenn etwas den vorgesehenen Ablauf stört. Fremde können noch ganz normale Gespräche mit ihr führen, bei denen ihnen nichts auffällt. 

Was ich sagen will, trotz diverser Beeinträchtigungen, leistet sie ihren vollwertigen Beitrag zum Familienleben. Es ist nur wichtig zu wissen, welche Belastungen man besser von ihr fernhält. Ich bin dankbar, dass ich sie noch habe und möchte es nicht als Abwertung gesehen haben, wenn ich trotzdem ihr Krankheitsbild gelegentlich benennen muss. Aber würde ich es völlig ignorieren, täte ich ihr auch keinen Gefallen.

Niemand kann etwas dafür, wenn die geistigen Kräfte schwinden. Es liegt ja nicht innerhalb der Willenskraft, und mit einem geeigneten Umfeld kann vieles von dem langsam Schwindenden kompensiert werden.
Insbesondere ist es sinnlos, dem so Betroffenen Vorwürfe dafür zu machen. Denn aus seiner Perspektive macht derjenige ja alles wie immer und basierend auf den vertrauten Fähigkkeiten. Und vermeintliche Angriffe lösen nur Angst und Zorn aus.

Ich mache mir da nur so meine Gedanken, wenn ich von den jüngsten Vorkommnissen in Rom höre, weil mich da einiges an das Verhalten meiner Mutter erinnert. Es würde vermutlich nicht einmal auffallen, wenn ein kluger und liebevoller Beraterstab wie eine Familie ein paar kleinere Ungereimtheiten abfangen, Zornausbrüche mildern und freundlich hinweisen könnte, dass Widerspruch von einem selbst nur leicht so Erkrankten als heftige Aggression empfunden wird. Wenn alles getan würde, um das Gütige und Liebevolle, das da ist, generell zum Tragen zu bringen. Aber was wenn hier Vertrauenspersonen den Zorn noch zusätzlich anstacheln? Wenn die Ängste bestärkt werden, um einer eigenen Agenda zum Durchbruch zu verhelfen? Wenn kein anderer zu sprechen wagt, um nicht respektlos zu erscheinen, obwohl einige Verhaltensweisen und Reaktionen  immer auffälliger unangemessen sind? Wenn der Erkrankte nicht mehr imstande ist, neue Argumente in seine bisherige Argumentation zu integrieren und darum jede kritische Frage als Angriff vermerkt? Was wenn da große Machtfülle ist und die üblichen Schranken, die deren Einsatz verhindern gefallen sind und der Zweck - ein Lebensprojekt - alle Mittel zu rechtfertigen scheint und niemand da ist, der das noch mäßigen kann und will? Wenn falsche Freunde etwas, das kein Problem sein müsste, zu einem großen Problem werden lassen?


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen